Eine Spessarträubernovelle


Ronan war ein Mitfünfziger und hatte das Singledasein satt.

Deswegen las er seit geraumer Zeit am Wochenende diverse Anzeigen in seiner Zeitung und im regionalen Stadtanzeiger. Doch so richtig fündig wurde er nicht. Deshalb beschloss er, selbst eine Anzeige aufzugeben.

Als er gerade dabei war, einen Text zu verfassen und ihn wieder zu verwerfen, kam eine Mail
von einem Schulfreund in sein Postfach geflattert.

Dieser schickte ihm eine Anzeige über das Projekt einer Theatergruppe aus seiner alten Heimat, dem Spessart. Die Laienschauspieler suchten Geschichten aus dem Räuberland, die über die Generationen hinweg lebendig geblieben sind.

Daraus wollten sie ein Theaterstück schreiben und aufführen.

Sie würden sich am kommenden Wochenende im Gasthaus zur Post, dem ehemaligen Wirtshaus im Spessart treffen und sich die Geschichten erzählen lassen.

Vergessen war das Ansinnen, eine Kontaktanzeige aufzugeben. Ronan holte die alte silberne
Taschenuhr, ein Familienerbstück, aus seinem Sekretär und erinnerte sich der Geschichte, die ihm einst sein Vater erzählte:


Vor sehr langer Zeit, war einer seiner Vorfahren, der Johann, ein Kaufmann aus Nürnberg,
mit der Tochter eines Tuchhändlers aus Frankfurt, verlobt.

Zu diesem Anlass bekam er eben diese silberne Taschenuhr vom künftigen Schwiegervater
geschenkt, zum Zeichen dafür, dass er in dessen Familie aufgenommen ward. Da der 
Tuchhändler keine männlichen Nachkommen hatte, kam Johann zu dieser Ehre und die Uhr in seinen Besitz.
Drei Tage vor der Hochzeit nun wurde in Frankfurt die Kutsche eingespannt und man machte
sich auf den Weg nach Nürnberg. Da dies zu jener Zeit keine gefahrlose Reise war und man
einen Zwischenhalt an einer Poststation im Spessart einlegen musste, ritt ihnen Johann von
Nürnberg aus entgegen. Sein Stoßseufzer, den er jeweils vor dem Durchqueren des Spessarts gen Himmel schickte, hatte ihn immer gut behütet: “Lieber Gott, du hast mir aus dem Mutterleib geholfen, du wirst mir auch durch den Spessart helfen.”

Er war schon in der Nähe der Schenke, wo er auf die Kutsche mit seiner Braut warten wollte, da geriet er in den Hinterhalt einiger Galgenvögel, die sich zu dieser Zeit immer häufiger zu einer Räuberbande zusammenrotteten, um betuchte Reisende zu überfallen und sie auszurauben.
Johanns Pferd bäumte sich auf und fiel in einen wilden Galopp quer durch den Wald. Der
Überfall war missglückt.

Aber als er mit dem Pferd über einen Graben springen wollte, kam es ins Straucheln und warf
seinen Reiter ab. Johann schlug so unglücklich mit seinem Kopf auf, dass er die Besinnung
verlor.

Als er wieder zu sich kam war es dunkel um ihn herum, bis auf eine kleine Lichtquelle, die von einer Feuerstelle zu ihm drang.

“Endlich schlägst du die Augen auf”, flüsterte eine weibliche Stimme ganz nah an seinem Ohr. “Zwei volle Tage warst du ohne Bewusstsein. Wie ist dein Name Fremder?”

Doch Johann konnte sich an nichts erinnern, nicht einmal an seinen Namen.

“Wo bin ich? Wie komme ich hierher?” Da erzählte ihm die Frau, dass sie unterwegs war, um

Holz zu sammeln und ihn dabei aufgefunden hatte. Sie hatte ihn auf ihren Karren geladen und mitgenommen.
“Solange du dich nicht erinnern kannst, wer du bist, kannst du hier mit mir in meiner Höhle
leben. Es sind schwere Zeiten, da man muss sehen, wie man sich durchschlägt, als
alleinstehende Frau. Du kannst mir dabei helfen und auf die Jagd gehen. Wild gibt es hier
genug. Was wir selbst nicht brauchen, kann ich unter der Hand für ein paar Groschen im Dorf
verkaufen.

Wohlweislich verschwieg sie ihm, dass ihr Mann ein gesuchter Räuber war, der untertauchen
musste, sonst wäre der Galgen seiner. Er war ein finsterer Geselle, dem auch ein Menschenleben nichts kostete.

Johann also willigte ein. Was hatte er auch sonst für eine Wahl. Und so sorgte er in den
kommenden Wochen für genug Wildbret und ihrer beider Unterhalt. Er selbst verwilderte in
dieser unwirtlichen Behausung einer Höhle immer mehr und schon bald sah er aus wie ein
Waldschrat, den man tunlichst aus dem Wege geht.

Doch Nacht für Nacht zog er eine silberne Taschenuhr aus seiner Hose und versuchte sich zu
erinnern. Daraufhin sah er in seinen Träumen zwar ein immer wiederkehrendes, doch nur
schemenhaft zu erkennendes liebliches Gesicht, das sich ihm zuneigte und lächelte. Aber seine Erinnerung kam nicht zurück.

Dafür wurde seine Sehnsucht nach diesem wunderbaren Geschöpf immer größer.

Eines Tages war er in einem Tagtraum gefangen und unachtsam. Die Schergen des Fürsten, in dessen Wald er unterwegs war, glaubten in ihm den steckbrieflich gesuchten Räuber Veit
Holzbein wiedererkannt zu haben. Alles Beteuern seiner Unschuld half nichts.

Sie nahmen ihn mit sich und warfen ihn in einen Kerker. Nach ein paar Tagen bei Wasser und
trockenem Brot wurde er vor den kurmainzischen Gerichtshof gestellt.

Diesem gehörte nun auch besagter Tuchhändler aus Frankfurt an. An dessen Seite betrat seine Tochter zum ersten Mal den Gerichtssaal. Sie konnte es sich nicht recht erklären warum, aber sie hatte in der Nacht einen Traum, der sie mit dem Verlangen aufwachen liess, den Vater zu Gericht zu begleiten.

Als Johann nun gebeugten Hauptes und in Ketten liegend, schlurfend den Gerichtssaal betrat, hob er einer inneren Eingebung folgend den Kopf und sah direkt in die warmen Augen von Elisa, seiner Verlobten. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und auch in den ihrigen leuchtete ein zaghaftes Erkennen auf, trotz des verwilderten Aussehens des Angeklagten. Vor allem aber fühlte sie, dass es sich um ihren Verlobten handeln musste.

“Johann?” fragte sie mit zitternder Stimme.

“Elisa, oh meine Elisa. Ich sah dein Gesicht nur veschwommen in meinen Träumen. Aber jetzt
ist es mir klar und deutlich. Und meine Erinnerung ist auch wieder da."

Er nestelte aus der zerlumpten Hose die Taschenuhr hervor. “Schau, zum Zeichen die Uhr
deines Vaters, die er mir zu unserer Verlobung geschenkt und mich damit in eure Familie
aufgenommen hat. Sie war die ganze Zeit mein treuer Begleiter.”

Der Tuchhändler kam hinzu und auch ihm hielt er sie zum Beweis entgegen. Er konnte es noch nicht so recht glauben, dass sein Schwiegersohn in spe noch am Leben war und es sich bei ihm nicht um den steckbrieflich Gesuchten handelte. Doch schließlich konnte nur der wahre Besitzer die Geschichte der Uhr kennen.

So kam alles zu einem guten Ende und alsbald hörte man die Hochzeitsglocken läuten.

 

Und nicht nur Johann fand sein Glück zurück.
Auch bei Ronan, der nicht nur mit der Geschichte von Johann, seinem Urahnen, das Herz von Felicitas eroberte, kehrte ganz ohne Kontaktanzeige
das Glück ein.