Inspiriert durch Raymond Queneaus Stilübungen sind folgende, an sich vier gleiche Geschichten
entstanden, die sich nicht nur hinsichtlich der Jahreszeiten verändern.
Die Bahnfahrt
I
Ella stand am Bahnsteig und wartete auf den
Regionalexpress, der sie von A nach B bringen sollte. Es war früh am Morgen. Der Zug hatte Verspätung und sie fror. Sie nahm in einem halb vollen Zugabteil am Fenster gegen die Fahrtrichtung
Platz. Ihr gegenüber saß ein junger Mann, der aus einer abgelaufenen Fahrkarte einen Kranich zauberte und sie einem kleinen Kind auf der andern Seite des Ganges schenkte. Die Häuser der Stadt
verschwanden, aber sie konnte ihnen noch lange nachblicken. Dann war der Blick frei auf eine dahinziehende Landschaft aus Feldern und Wiesen. Am Horizont erkannte sie das erste zarte Grün der
Bäume des Bergwaldes. Der Zug fuhr nun eine ganze Weile an einem sich durch Wiesen und Dorf schlängelnden Bach vorbei. Jedes Mal, wenn sie hier vorbeikam, hegte sie den Wunsch, am nächsten Halt
einmal auszusteigen und die Idylle im Bild festzuhalten.Sie fand es entspannend zuzusehen, wie sich draußen alles veränderte und schlief ein. „Den Fahrschein, bitte!“ Eine hohe Stimme, die so gar
nicht zu diesem Schaffner passte, weckte sie aus ihrem Schlummer. Sie nestelte in ihrer Handtasche nach dem Ticket und fand es in ihrem kleinen Buch, das sie für bei die Reise mitgenommen hatte.
Darin standen kleine Gedankensplitter und
Haiku
Die Bäume noch kahl
Sonnenstrahlen brechen durch
Erwecken Leben
Frühling: Aus grau und Frust wird bunt und Lust
Ja es war Frühling und die Zeit, aufzublühen
II
Ella stand am Bahnsteig und wartete auf den Regionalexpress, der sie von A nach B bringen sollte. Es war schon Mittag. Der Zug wurde auf ein anderes Gleis umgeleitet. Sie rannte die Treppen hinunter und wieder hinauf. Außer Atem ergatterte sie einen letzten freien Platz am Gang. Der Zug rollte an, die Häuser der Stadt verschwanden und gaben den Blick leider nicht ganz ungehindert frei auf eine dahinziehende Landschaft aus Feldern und Wiesen. Am Horizont konnte sie nur den Bergwald erahnen. Der Zug fuhr nun eine ganze Weile an einem sich durch Wiesen und Dorf schlängelnden Bach vorbei. Sie wusste es nur aus der Erinnerung, sehen konnte sie ihn von ihrem Platz aus nicht. Aber jedes Mal, wenn sie hier vorbeikam, hegte sie den Wunsch, am nächsten Halt einmal auszusteigen und die Idylle im Bild festzuhalten.Trotz des Stimmengewirrs um sie herum schlief sie ein. „Den Fahrschein, bitte!“ Eine freundliche männliche Stimme weckte sie aus ihrem Schlummer. Sie nestelte in ihrer Handtasche nach dem Ticket und fand es in ihrem Buch, das sie für die Reise mitgenommen hatte. Darin standen kleine Gedankensplitter und Haiku
Genieße den Tag
mit viel Sonne im Herzen
Gesundheit und Glück
Möglichst heiter, ein Stück weiter, auf der Lebensleiter
Es war Sommer, und längst Zeit, aufzuleben
III
Ella stand am Bahnsteig und wartete auf den Regionalexpress, der sie von A nach B bringen sollte. Es war am späten Nachmittag. Bevor ihr Zug einfahren konnte, musste er erst auf einen Güterzug und dann auf einen Intercity warten, die Vorrang hatten. Sie nahm in einem fast leeren Zugabteil am Fenster in Fahrtrichtung Platz. Der Zug rollte an, die Häuser der Stadt verschwanden und gaben den Blick frei auf eine vorbeiziehende Landschaft aus Feldern und Wiesen. Am Horizont versank langsam die Sonne hinter den Wipfeln des Bergwaldes und tauchte die Blätter in goldgelbes Licht. Der Zug fuhr nun eine ganze Weile an einem sich durch Wiesen und Dorf schlängelnden Bach vorbei. Jedes Mal, wenn sie hier vorbeikam, hegte sie den Wunsch, am nächsten Halt einmal auszusteigen und die Idylle im Bild festzuhalten. Sie mochte es zuzusehen, wie sich die Natur im Jahresrhythmus veränderte und schlief ein. „Ihren Fahrschein, bitte!“ Eine warme weibliche Stimme weckte sie aus ihrem Schlummer. Sie nestelte in ihrer Handtasche nach dem Ticket und fand es in ihrem Buch, das sie für die Reise mitgenommen hatte. Darin standen kleine Gedankensplitter und Haiku
Gold`ner Oktober
Im Wind die Blätter fallen
Die Drachen steigen
Es war Herbst und die Zeit reif.
IV
Ella stand am Bahnsteig und wartete auf den Regionalexpress, der sie von A nach B bringen sollte. Es war am frühen Abend. Der Zug rollte pünktlich ein. Sie nahm in einem wenig besetzten Zugabteil am Fenster in Fahrtrichtung Platz. Der Zug rollte an, die Häuser der Stadt verschwanden und gaben den Blick frei auf eine vorbeiziehende Landschaft aus Feldern und Wiesen, die in der Dämmerung lagen. Am Horizont waren nur schemenhaft die Wipfel des Bergwaldes zu erkennen. Der Zug fuhr nun eine ganze Weile an einem sich durch Wiesen und Dorf schlängelnden Bach vorbei. Jedes Mal, wenn sie hier vorbeikam, hegte sie den Wunsch, am nächsten Halt einmal auszusteigen und die Idylle im Bild festzuhalten.Sie fand es entspannend zuzusehen, wie sich der Tag auf die Nacht vorbereitete und schlief ein. „Den Fahrschein, bitte!“ Eine forsche weibliche Stimme weckte sie aus ihrem Schlummer. Sie nestelte in ihrer Handtasche nach dem Ticket und fand es in ihrem Buch, das sie für die Reise mitgenommen hatte. Darin standen kleine Gedankensplitter und Haiku
Die Nächte so kalt
Feuer prasselt im Kamin
Zeit für Geschichten
Still werden
zeitlos sein
Ruhe finden
Und es war Winter. Zeit, um sich auszuruhen.