Die letzten Wochen habe ich bei einem Literaturspiel von H-J Lenhart mitgewirkt.

Folgende Geschichte ist dabei entstanden:

Die Namen waren vorgegeben und wöchentlich kamen immer neue Worte (farbig markiert) und Aufgabenstellungen dazu, die es galt, in die Geschichte einfließen zu lassen.

Außerdem sollte sie aus etwa 8000 bis 10 000 Zeichen bestehen.

Die genaue Spielbeschreibung ist HIER nachzulesen

 

 

Das Vermächtnis

 

 

Céline und Julie stehen etwas ratlos vor dem Haus der Großmutter, das sie ihnen vererbt hatte.

 

Was sollen sie tun? Auf der einen Seite leben sie mittlerweile wieder in Frankreich, dem Land aus dem ihr Vater kommt, auf der anderen Seite erlebten sie hier wunderbare Kindertage und Zeiten als Teenager. Am besten wäre es, das schnucklige kleine Haus zu verkaufen. Aber wohl ist ihnen dabei nicht.

 

Bevor sie sich endgültig dazu entschließen, wollen sie auf Entdeckungsreise gehen und schauen, was von ihnen aus früheren Tagen noch zu finden ist.

 

Schnell ist ihnen klar, dass sie es auf dem Dachboden versuchen wollen, denn da landet vieles, was aktuell nicht mehr gebraucht wird. Zum Wegwerfen sind die meisten Sachen ja auch zu schade und wer weiß, irgendwann …

 

“Julie, schau mal”,  ruft Céline ihr zu, die gerade einen alten Koffer aus Leder geöffnet hat. “Ist das nicht deine Sonnenbrille, die du damals vergessen hast, weil wir es so eilig hatten und den Zug nicht verpassen wollten?”

 

“Das stimmt, ich erinnere mich, und auch an den Tag, als sie mir Tante Billie geschenkt hat, weil ich sie so cool fand. Wie es ihr und Onkel Richie wohl geht?”, sinniert Julie laut.

 

“Schade eigentlich, dass sie wieder zurück nach Venezuela gegangen sind und der Kontakt abgebrochen ist”, findet Céline.

 

“Wir haben eben auch ein eigenständiges Leben begonnen und da haben sich die Prioritäten verschoben. Du hast deine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht und ich bin Apothekerin und Heilpraktikerin geworden.” erwidert Julie lächelnd ihrer Schwester. "Ich erinnere mich noch ganz genau, dass unsere Großmutter meinte, ich sei nun eine Kräuterhexe und würde gut in ihr Hexenhäuschen passen.

 

Ihr Augenmerk richtet sich in eine Ecke, wo sie ihre alten Rollschuhe entdeckt. “Guck mal Céline, die gibt es auch noch. Meine Narbe am Knie zeugt heute noch von dem damals missglückten Bremsversuch am Berg.”

 

Céline nickt wissend: “Ich hatte dich gewarnt, aber du wolltest ja nicht auf deine ältere Schwester hören”

 

Während sie spricht, nimmt sie aus dem Koffer ein altes Fotoalbum zur Hand, in dem Schwarz-Weißfotos von ihrer Großmutter und dem Großvater zu sehen sind. Ein etwas größeres Bild zeigt sie an deren Hochzeitstag.

 

“Du Julie, denkt dir noch, wie Großmutter uns einmal erzählt hat, dass es damals üblich war, in Schwarz zu heiraten und nur einen weißen Schleier und ein Myrtenkränzchen zu tragen als Zeichen der Jungfäulichkeit? Und guck mal, wie stattlich der Großvater ausschaut mit seinem Frack und dem Zylinder auf dem Kopf!”

 

“Ja, und kaum eine Generation weiter ist schon wieder alles anders. Wenn wir so weitermachen, sind wir hier in ein paar Wochen noch zugange”, lacht Julie.

 

“Wohl wahr” zwinkert ihr Céline zu. “Hast du eine Ahnung, wozu das rote Stempelkissen gut war, das hier unter dem Album liegt?”

 

 “Nicht wirklich”, meint Julie schulterzuckend.

 

Plötzlich klappert es verdächtig einen Stock tiefer. Die beiden Schwestern gehen nachsehen und hören in der Küche das jämmerliche Miauen einer Katze, die vor den leeren Schüsselchen sitzt.

 

“Ach herrje, du bist wohl die kleine Mizzi, von der die Großmutter am Telefon erzählt hat.” Julie schaut in den Schränken nach Katzennahrung, während Céline etwas Wasser in eins der Schüsselchen gibt. “Was machen wir nur mit dir? Wenn sich niemand in der Nachbarschaft findet, der sich deiner annimmt, müssen wir dich wohl ins Tierheim geben”, seufzt Julie und streichelt dabei den kleinen Tiger. ”Armes Ding”.

 

Céline ist derweil ins Wohnzimmer gegangen, in dem ein Bücherschrank steht, für dessen Inhalt sie sich interessiert.

 

“Julie, du glaubst nicht, was ich grad gefunden habe. Großmutter besitzt tatsächlich ein Buch mit Zaubersprüchen und Rezepten aus der Hexenküche. Das ist doch was für dich oder?” ruft Céline in Richtung Küche.

 

“Unbedingt!”. Julie ist neugierig und gemeinsam blättern sie Seite um Seite um und lesen mit wachsendem Interesse.

 

Einer der Zaubersprüche war rot markiert und mit dem Zusatz versehen, dass man mit ihm die Gedanken eines andern lesen kann, der aber  nur einmalig angewandt werden darf.

 

“Wollen wir das mal ausprobieren Schwesterherz? Ich stelle dir meine geheimsten Gedanken zur Verfügung”, lacht Céline, die an den Hokuspokus eh nicht glaubt.

 

“Na gut, dann denke einmal etwas, das ich nicht gleich an deiner Nasenspitze erkenne”, witzelt Julie und sie beginnt den Zauberspruch ganz andächtig zu sprechen:

 

 

“Accerso Alius planetsomsom Ut Mihi, Phasmatis des Interregnums Ego Dico, Solvo Meus Mens Mei, Ego Dico Phasmatis Audite Meus Placitum Meus Mens Quod Iacio.”

 

“Himmel Herrschaftszeiten - hättest du deine erotischen Fantasien nicht für dich behalten können?”, entsetzt sich Julie und eine unangenehme Röte steigt ihr ins Gesicht. “Habe ich doch! Keinen Laut habe ich von mir gegeben”, zwinkert ihr Céline zu.

 

“Jetzt krieg ich diese verdammten Bilder nicht mehr aus meinem Kopf", entfährt es Julie und sie geht an die frische Luft, um wieder klar denken zu können.

 

Céline greift derweil gedankenverloren zu den Tarotkarten, die sich ebenfalls im Bücherschrank befinden, mischt  sie und deckt die erste Karte auf.

 

Der Stern zeigt sich ihr und sie liest im beiliegenden Buch, dass der Stern das Prinzip Hoffnung verkörpert und uns den Weg erhellt, um Geheimnisse zu ergründen und Zusammenhänge zu erkennen.

 

“Na da bin ich aber gespannt”, denkt Céline.  “Ich sollte besser auch mal an die frische Luft gehen”.

 

Doch auf dem Weg zur Haustür machen sich ihre Füße selbständig und führen sie wieder auf den Dachboden direkt vor einen großen, mit  Gold umrandeten Standspiegel, der etwas verdeckt in einer Ecke steht.

 

Und noch während sie sich dort betrachtet, steigt eine Frau älteren Semesters aus ihm heraus.

 

Céline erschrickt sich fast zu Tode.

 

“Wer sind sie”? 

 

“Ich bin Ulla, die Autorin eurer Geschichte.”

 

“Nie im Leben!”

 

“Es ist so!” Ich versuche Céline zu beruhigen.”Aber du musst dich nicht fürchten. Ich will dich einladen, mit mir durch den Spiegel in meine Zeit zu gehen und dir dabei helfen, eine gute Entscheidung zu treffen.

 

Céline fasst  sich ein Herz und geht, nun doch auch neugierig geworden, mit mir durch den Spiegel hindurch aus der Gegenwart der Vergangenheit in die Gegenwart der Zukunft.

 

“Schau dich ruhig um, was aus dem Dachboden geworden ist”.  Céline steht inmitten einer Galerie, die in hellem Licht erstrahlt. In ihr finden sich kleine Skulpturen, die auf Sockeln stehen, und Aquarelle  und Radierungen, die an den Wänden hängen. Im Nebenraum, dessen Tür offen steht, entdeckt sie ein kleines Atelier mit Staffelei und Farbpaletten.

 

In einer sehr alten Vitrine, die mit kleinen Holzschnitzereien gefüllt ist, liegt auch eine wertvoll verzierte handgefertigte Schatulle.

 

“Wegen dieser Schatulle habe ich dich mit in meine Zeit genommen Cèline. Sie enthält das Tagebuch eurer Großmutter. Ich dachte, das dir das helfen kann, Zusammenhänge zu erkennen, die dir deinen künftigen Weg weisen."

 

“Celine, wach auf, schau mich an” Julie tätschelt leicht die farblosen Wangen ihrer Schwester. “Was ist passiert?” fragt Céline langsam zu sich kommend und noch etwas verwirrt.

 

“Das frag ich dich. Als ich dich unten nicht mehr angetroffen habe, bin ich wieder auf den Dachboden gegangen und habe dich da liegen gesehen”, erwidert Julie noch ein wenig besorgt.

 

“Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Mir wurde plötzlich schwarz vor Augen. Dann war da diese Frau, die aus dem Spiegel entstiegen ist und mich in ihre Zukunft mitgenommen hat. Sie hat mir eine wunderschöne Galerie gezeigt, ein Atelier und eine in die Jahre gekommene Vitrine, in der eine Schatulle liegt, die das Tagebuch unserer Großmutter enthält.”

 

“Ich glaube du brauchst einen Arzt”, gibt Julie zu bedenken.

 

“Nein, mir geht`s schon wieder besser. Ich muss nur mal ein Glas Wasser trinken, damit mein Kreislauf wieder in Schwung kommt”, beschwichtigt Céline ihre Schwester. “Komm, lass uns nach dieser Vitrine suchen, ich bin mir sicher, dass diese Erscheinung etwas zu bedeuten hat.”

 

Tatsächlich finden sie die erwähnte Vitrine unter einer alten verstaubten Decke und in ihr diese wertvolle antike Schatulle.

 

“Komm, lass uns nach draußen gehen. Mir ist das hier herinnen grad alles viel zu verstaubt und auch unheimlich”. Julie zupft an Célins Ärmel und  zusammen gehen sie die Treppe hinunter und hinaus in den kleinen Vorgarten. Fast andächtig öffnet Julie die Schatulle und Cèline nimmt das Tagebuch der Großmutter heraus.

 

Sie fängt an den letzten Eintrag zu lesen, so wie sie es auch immer bei den Zeitungen hält:

 

 

“Mir ist es weh ums Herz. Meine Tochter ist mit ihrem Mann und den beiden Mädchen nach Frankreich gezogen. Ich hatte immer gehofft, sie würde bleiben, ihr künstlerisches Talent nicht verschwenden und sich hier im Haus ein kleines Atelier einrichten und eine Galerie eröffnen. Aber ihr Mann ist der Ansicht, dass dies alles nur eine brotlose Kunst sei. Entsprechend wird das auch den Mädchen so suggeriert, obwohl Céline das Talent ihrer Mutter geerbt hat. So erfreue ich mich nun an den kleinen Schnitzereien  meiner kleinen Künstlerin und erinnere mich den Geschichten von Julie, die mich mit ihrer Fantasie immer in Entzücken versetzt hat. Ich werde sie aufschreiben, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Das ist das, was mir auf immer bleibt!”

 

 

Céline und Julie weinen leise, so sehr berührt sind sie. Sie werden dieses Haus behalten!

 

 

 © Ulla Keleschovsky am 6.3.21