Zwei Menschen in stiller Betrachtung

 

Es war eine lange Reise. Doch nun sind sie hier.

Der Vater in seiner alten Heimat. Die Tochter seinen letzten Wunsch erfüllend.

In der Nacht noch nach ihrer Ankunft, gehen sie schweigend zu der alten knorrigen Eiche, auf die einst der Vater hinaufkletterte, wenn er allein sein wollte, damals, als zwölfjähriger Junge.

 

Nun liegt die Eiche entwurzelt halb auf dem Boden, halb auf einem Felsen. So entwurzelt, wie er sich einst gefühlt hatte. Im Licht des vollen Mondes ist keine Emotion auf dem Gesicht des Vaters zu erkennen, aber die Tochter nimmt ein leichtes Zittern an seinem Körper wahr. Der Mund bleibt stumm.

 

Der Vater hat sich Halt suchend auf seinen Stock gestützt, die Tochter ihre Hand auf dessen Schulter gelegt, eine Geste des Trostes und Zeichen ihrer tiefen Verbundenheit mit ihm.

 

Soeben wirft die Erde ihren Schatten vor den Mond, so dass diese in ein unwirkliches Licht getaucht wird. Eine friedvolle Stille breitet sich um sie aus und ein jeder von ihnen hängt dabei seinen eigenen Gedanken nach.

Dem Vater erscheint dieser Augenblick fast schon absurd hinsichtlich seiner aufflammenden Erinnerung. In einer solchen Nacht wurden sie mit einem Holz betriebenen Lastauto aus ihrem Dorf in die Kreisstadt in ein Lager gebracht und von dort, wie eine Ware die man loswerden will, in Güterwaggons verfrachtet. Er, seine vier Geschwister und seine Mutter. Sein Vater war irgendwo in Kriegsgefangenschaft. Sie konnten nichts von dem mitnehmen, woran ihr Herz hing. Zwei kleine Koffer, in denen das Nötigste zum Anziehen war, trug die Mutter, die Kinder waren mit zusammengerollten Bettwaren beladen.

Dann saßen sie mit vielen anderen zusammengepfercht im Waggon in vollkommener Dunkelheit. Das Rattern unter ihren Füßen schien lange Zeit das einzig Lebendige zu sein. Er konnte es auch heute noch nachfühlen, wie die Angst in seinen Gliedern bis zu seinem Herzen hoch kroch.

Ein leises Schluchzen und ein mit den Händen tastendes, suchendes kleines Mädchen, das jüngste der Geschwisterkinder, holte ihn damals und auch die anderen wieder aus der Starre, in die sie gefallen waren.

Sie fingen an zu beten, während sie einer ungewissen Zukunft entgegen fuhren. Sie waren Heimatvertriebene.

Ein tiefer Seufzer entfährt dem alten Mann.

 Vater, geht es Dir gut?“, fragt die Tochter besorgt und unterbricht damit ihr gemeinsames Schweigen.

Ja Tochter, mir geht es gut. Nur die Erinnerung war für einen Augenblick so lebendig, als lägen keine 70 Jahre dazwischen.

Gehen wir schlafen! Morgen schon sieht die Welt wieder ganz anders aus. Das war damals so und ist bis heute geblieben.“